Tödliche Gefahr: Zeitzünderbomben

Der siebenjährige Heinz fliegt 250 Meter weit durch die Luft

Es ereignete sich aber auch ein Vorfall, dessen Ausgang vielleicht zu den größten Wundern gehört, die während des Krieges in unserer Stadt zu verzeichnen waren. Am Vormittag des 10. Juli 1943, knapp neun Stunden nach dem Angriff wollte der Bergmann Karl Rogowski, Bickernstraße 85, etwas Schlaf nachholen. Aber er kam nicht zur Ruhe. Gelegentlich riss ihn die Explosion einer Zeitzünderbombe aus dem Schlaf. Seine Frau Erna war mit der Hausarbeit voll beschäftigt und die beiden Kinder Lothar (12) und Ruth (10) waren hinausgegangen.

Am Bickernsportplatz und machten die Geschwister eine Entdeckung. Auf dem Spielfeld sah man ein Loch. Auch der kleine Ernst Batenbruch, Gelsenkirchener Straße 106, und ein paar andere Kinder fanden sich ein und begannen zu rätseln. „Sicher von einem Blindgänger“, sagten sie.

Etwa zur selben Zeit schickte Paula Greskowiak, Hüller Straße 7, ihre Kinder Hubert (11) und Heinz (7) mit einer Kanne los zum Milchhändler Dams an der Bickernstraße. Ihr Mann Johann Greskowiak stand indes am Küchenfenster und rasierte sich, wobei er zwischendurch mal hinaus Richtung Bickernplatz blickte.

 

Ãœber dem Bahndamm steigt etwas Dunkles hoch
und segelt weit durch die Luft

Hubert und Heinz mit der Milchkanne kamen in der Bickernstraße nicht weiter. Sie war ab Michaelskirche gesperrt. In der Nähe der Brotfabrik Schweitzer sollten Blindgänger liegen. Also bogen sie wie die anderen Fußgänger an der Kirche rechts ab, um über den Bickernsportplatz ans Ziel zu kommen. Der Weg führte bei Bauer Tillmann auf die Gelsenkircher Straße. Die Kinder hofften, dass sie von der anderen Seite her an den Milchhändler herankommen könnten.

Auf dem Sportplatz sahen sie die anderen Kinder, die um das Loch herumstanden. Heinz und Hubert gingen hin. Ehe sie jedoch bei den anderen angelangt waren, gab es einen ohrenbetäubenden Knall. In dem Loch hatte kein Blindgänger, sondern eine Bombe mit Zeitzünder gesteckt. Sie explodierte fast genau um 11 Uhr.

Johann Greskowiak hatte von seiner Wohnung auch in diesem Augenblick aus dem Küchenfenster geblickt. Verwundert sah er, wie über dem Bahndamm etwas Dunkles hochstieg und durch die Luft segelte. Unmittelbar darauf drang auch die Detonation an seine Ohren. Noch mit dem Seifenschaum vom Rasieren im Gesicht rannte er los, in höchstem Grade besorgt um seine Kinder.

 

Der Pfarrer hält einen Kinderschuh in der Hand

Das Geräusch der Explosion hatte auch Bergmann Karl Rogowski erneut aus dem Schlaf gerissen. „Da ist schon wieder eine Bombe losgegangen“, sagte er zu seiner Frau und fragte nach den Kindern. Als er hörte, dass sie draußen waren, zog er sich blitzschnell an und rannte mit seiner Frau zu der Unglücksstelle. Johann Greskowiak war inzwischen auf dem Sportplatz angelangt. Von den Kindern sah er nichts mehr, nur das Loch. Pfarrer Fredebeul von der Pfarrei St. Michael lief herbei. Er hatte einen Kinderschuh in der Hand. „Der ist nicht von meinem Jungen“, sagte Greskowiak und suchte weiter.

Bauer Heinrich Tillmann kam an und hielt ebenfalls Kinderschuhe in der Hand. Greskowiak schüttelte wieder den Kopf. Als Rogowski und seine Frau eintrafen, sagten auch sie, dass es nicht die Schuhe ihrer Kinder seien. Dann hörte man plötzlich, dass einige Kinder gefunden und schon ins Krankenhaus gebracht worden seien. In welches allerdings, vermochte niemand zu sagen. Die verzweifelten Eltern machten sich gemeinsam auf den Weg, zuerst zum Ersatzkrankenhaus in der Luisenschule, dann zum St.-Anna-Hospital, schließlich quer durch die Stadt ins Ev. Krankenhaus Eickel.
Die Eheleute Rogowski entdeckten dort zuerst ihre kleine Ruth. Sie lebte noch, war aber ohne Besinnung. Das Kind starb nachmittags gegen 3 Uhr. Ihren Sohn Lothar fanden sie wenig später unter den 16 Todesopfern des Angriffs im Keller des Krankenhauses. Auch der kleine Ernst Batenbruch zählte zu den Opfern.

Johann Greskowiak hatte sich im Krankenhaus ebenfalls auf die Suche nach seinen Kindern gemacht. Er war auf das Schlimmste gefasst. In einem Zimmer entdeckte er seine Söhne: Hubert lag wach auf einem Bett, Heinz bewusstlos daneben. Beide waren noch angezogen. Ihre Kleidung zerfetzt, frische Erde an Hemd und Hose, Gesichter und Hände blau und gelb verfärbt. Es war ganz offenbar, dass sie noch genauso dalagen, wie man sie eingeliefert hatte. Empörung stieg in Greskowiak auf. Er fragte die Schwester, warum man sich um die Kinder nicht gekümmert habe. „Der Arzt hat angeordnet, dass sie zuerst einmal ruhig liegen bleiben sollen.“ Tatsächlich hatten die Ärzte die Kinder aufgegeben.

Gegen 18 Uhr erwachte Heinz aus seiner Bewusstlosigkeit – und die Ärzte stellten fest, dass beide bis auf einen verstauchten Knöchel bei Heinz keinerlei Schaden davongetragen hatten. Vater Greskowiak wurde derweil bewusst, dass die Ärzte mehr als Grund hatten, die Kinder aufzugeben: Nach menschlichem Ermessen hätten sie, wenn nicht schon der Aufprall tödlich war, in jedem Fall vom Luftdruck so schwere innere Verletzungen davongetragen haben müssen, dass jede Hilfe vergebens wäre. Aber hier war das Wunder Wirklichkeit geworden.

Folgendes war bei der Explosion geschehen: Hubert, der ältere der beiden Jungen, wurde vom Luftdruck fast 100 Meter weit geschleudert. Er landete an der Eisenbahnbrücke in der Feldkampstraße. Die Verfärbung hatte er vom Pulverdampf. Er war nur benommen, vom Fall und von dem mehrfachen Überschlag unterwegs, ansonsten verlor er nicht einmal die Besinnung.

Während er aber in Bodennähe geblieben war, hatte Heinz eine unwahrscheinliche Luftreise hinter sich. Er flog bei der Explosion zur anderen Seite wie von einem Katapult geschleudert etwa 250 Meter weit, und zwar über den langgestreckten Hof der Brotfabrik Schweitzer, dann über das zweieinhalbstöckige Wohnhaus von Schweitzer, dann in etwa 35 Meter Höhe über die Bickernstraße, dann über das Gasthaus Blecher hinweg, das gegenüber stand. Heinz landete dahinter in frisch aufgeworfener Gartenerde.

Bei der Rekonstruktion dieses Flugs wurde dem Vater bewusst, dass es sich bei dem dunklen Etwas, das er beim Rasieren vom Fenster aus gesehen hatte, um seinen sein Junge gehandelt hatte. Aber damit immer noch nicht genug. Heinz ging neben einer zweiten Bombe mit Zeitzünder nieder. Glücklicherweise wurde er noch rechtzeitig gefunden: Diese Bombe, die der Grund für die Absperrung der Bickernstraße war, explodierte am Nachmittag des 10. Juli, noch bevor der Junge das Bewusstsein wieder erlangt hatte.

Die Zeitzünderbombe, die hinter den Häusern an der Bickernstraße hochging, wo Heinz Greskowiak nach seiner Luftreise gelandet war, forderte am 10. Juli ein weiteres Menschenleben. Die Witwe Wilhelmine Kolebka, Am Mühlenbach 88, hielt sich nur bis zum frühen Nachmittag an das Ausgehverbot. Ihr Haus stand etwa 80 Meter von der Einschlagstelle entfernt. Dann aber taten ihr die Hühner im Hof leid. Sie hatten den ganzen Tag noch kein Futter bekommen. Wilhelmine Kolebka war gerade im Hühnerstall, als die Bombe hochging. Von einem Gartenbunker in der Nähe wurden zentnerschwere Betonbrocken abgerissen. Einer davon traf die Frau. Sie erlag eine Woche später ihren schweren Verletzungen.

 

Kaum jemand nimmt das unscheinbare Loch ernst

Die Entdeckung der Einschläge war dem Zufall überlassen. Wenn man sie gefunden hatte, blieb zunächst nichts anderes übrig, als die Umgebung abzusichern. Die Wehrmachtsfeuerwerker hatten alle Hände voll zu tun und kamen in einigen Fällen erst nach zwei oder gar drei Wochen dazu, mit der Entschärfung zu beginnen. Auch auf der Wiese hinter den städtischen Häusern an der Schlachthofstraße, in dem Karree, das auf den anderen Seiten von Bismarckstraße (Gerichtsstraße), Grünem Ring und Freisenstraße begrenzt wird, wurde am Morgen des 10. Juli ein Loch entdeckt, so unscheinbar, dass man schlimmstenfalls auf eine Brandbombe tippte.

Kaum jemand nahm das Loch ernst. Es wurden auch keine Absperrmaßnahmen getroffen. Nur ein Mann vom Sicherheitsdienst aus der Freisenstraße war besorgt. Er ging von Haus zu Haus und forderte die Bewohner auf, den Garten vorerst zu meiden und vor allem Kinder fern zu halten. Man befolgte seine Warnung, aber ernst nahm die Sache immer noch niemand. Es passierte ja auch nichts.

Gegen 17 Uhr kam Ella Bahl, Johannesstraße 36, die Bismarckstraße entlang, um ihre Mutter zu besuchen. Frau Ebeling, Schlachthofstraße 21, stand am Fenster und sah ihre Tochter kommen. Die Bismarckstraße war zu dieser Zeit noch nicht so dicht bebaut, so dass man sie weit einsehen konnte. Die Tochter winkte freudig ihrer Mutter zu, sie brachte gute Nachricht. Das Haus Schlachthofstraße 21 hatte schon beim ersten Großangriff am 26. Juni 1943 einen Treffer erhalten. Nun hatte sie bei Verwandten auf dem Lande ein Quartier ausgemacht. Die Mutter sollte mit ihr gleich in den nächsten Tagen hinfahren, um für einige Zeit Ruhe zu finden.

Aber während die Mutter schon zur Tür ging, um zu öffnen, machte die Tochter noch ihren gewohnten Umweg zum Kaninchenstall ihres Vaters, weil sie ja nichts von dem drohenden Loch in nächster Nähe wusste. Und da geschah es. Die Erde und die Häuser in der Nachbarschaft erzitterten plötzlich unter der gewaltigen Explosion der Bombe.

Eine Frau aus der Freisenstraße schilderte der WAZ diesen Augenblick: „Draußen wurde es dunkel, nach einer Weile wieder hell, dann abermals dunkel und wieder hell. Ich riss meinen Jungen an mich und lief in den Keller. Natürlich dachte ich an einen Angriff. Aber es blieb bei diesem einen Knall. Als ich auf die Wiese sah, gähnte dort, wo das unscheinbare Loch gewesen war, ein riesiger Krater. Die Bombe hatte enorme Sandmassen hochgeschleudert. Und deshalb war es ganz dunkel. Und beim Herabfallen war es zum zweiten male finster geworden. Sogar auf der Tellstraße, auf der Gelsenkircher Straße und auf der Stöckstraße lag der Sand.“

Unmittelbar nach der Explosion stürzte Frau Ebeling aus der Wohnung und rief laut nach ihrer Tochter. Niemand außer ihr wusste, dass sie die Bismarckstraße entlang gekommen war. Innerhalb kurzer Zeit fanden sich etwa 30 Menschen ein. Sie griffen nach Schaufel und Spaten und begannen zu graben. Aber wo sollten sie beginnen? Der Krater allein war so groß, dass man ein Haus hätte hineinstellen können. Die Mutter stand verzweifelt daneben und sah den Arbeiten zu.

Dann kamen einige Kinder. Sie hatten eine Handtasche in den Gärten an der Bismarckstraße gefunden. Eines hatte einen Schuh mit Strumpf in einer Hecke gefunden. Es bestand kein Zweifel, dass die Sachen Ella Bahl gehörten. Von ihr selbst aber fand man vorerst nichts mehr. Erst eine Nachbarin von der Schlachthofstraße brachte den suchenden Männern und der verzweifelten Mutter die schreckliche Gewissheit: Frau Bernacki wohnte schräg gegenüber von Frau Ebeling. Vor Entsetzen konnte sie kaum sprechen. Bei der Explosion war sie in ihrer Wohnung. Dann verfärbte sich plötzlich die Decke mit Blut. Auf dem Dachboden, der unmittelbar über ihrer Wohnung lag, fand sie das fünfte und letzte Opfer der Zeitzünderbomben, Ella Bahl. Sie war vom Luftdruck über die östliche Häuserreihe der Schlachthofstraße hinweggeschleudert worden.

26 Todesopfer hatte der erste Großangriff gefordert; hinzu kamen sechs tote Kriegsgefangene und ausländische Arbeiter. Beim zweiten Großangriff am 10. Juli waren es 29 Tote, zehn Opfer bei der Flak kamen noch hinzu.

Die Zahlen waren für die Behörden alarmierend. Die Evakuierung der Schulen wurde vorbereitet. Und wer selbst die Möglichkeit hatte, suchte sich ein Ausweichquartier auf dem Lande. Beliebtes Ziel war das Moselstädtchen Klotten, mit dem Wanne-Eickel schon vor dem Kriege eine Patenschaft geschlossen hatte. Aber auch die nähere Umgebung wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit angesteuert.

 

 

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