NZZ Folio: Wanne-Eickel (1997)

Im roten Herrgottswinkel

Wanne-Eickel, im Herzen des Ruhrgebiets, hat kaum mehr Kohle, aber noch den alten Kumpelgeist. Ein Streifzug durch die postindustrielle Provinz.

Von Peter Haffner

Alles, was man so zum Leben braucht - wie zum Beispiel eine ordentliche Auswahl an Bestattungsinstituten - findet man in Wanne-Eickel an der Hauptstrasse, die deshalb auch „Hauptstraße“ heißt. Mag es einem schwer fallen, sich für einen der ausgestellten Särge oder eine nette Urne zu entscheiden: Seiner Habseligkeiten kann man sich leicht entledigen, stehen doch Entsorgungscontainer für Kleider, Schuhe und die vielleicht letzte Flasche – „Einwurfzeiten nur werktags von 7.00-19.00 Uhr“ - ebenda an jeder Ecke.

Ja, die Deutschen haben einen Sinn für Ordnung, und wer bei Rot über die Strasse geht, wenn weit und breit kein Auto naht, outet sich als Ausländer. Das ist in Wanne-Eickel nicht anders als anderswo in Deutschland, und auch hier ist die Fußgängerzone eine Fortsetzung der guten Stube mit anderen Mitteln: „Angelas Geschenkpassage“, „Ninas Bildermarkt“ oder „Christines Blumenstübchen“ sind adrett zwischen Bräunungscenter, Gardinenstudios und Kneipen gestreut, deren Aushang ein Schnapsangebot auflistet, das auswendig zu lernen mehr Mühe machte als Schillers „Glocke“.

Was anders ist in Wanne-Eickel, hat mit seiner Lage zu tun. Es liegt mitten im Ruhrgebiet, und noch immer weckt dieser Name, als sei er die Bezeichnung für einen Krankheitsherd, Bilder von schwarzen, schwärenden Wolken über einer von Kohlestaub verschleierten Silhouette von Schloten, Förderböcken und Gasometern. Kokereien, Stahlhütten und Zechen, bevölkert von Kumpeln, deren Augenweiß leuchtet wie das der Eingeborenen im Kongo - das war einmal. Deutschlands schwarzer Kontinent ist grün. Es fällt schwer, in Wanne-Eickel herumzuspazieren, ohne sich in einen Park zu verirren, in ein Feuchtbiotop zu stolpern oder in eine Magerwiese zu treten. Da sitzt man dann, in der Nase den Duft von frischgemähtem Gras, hört die Vögel zwitschern und die Kirchenglocken bimmeln und würde, wäre man mit verbundenen Augen hergeführt worden, jede Wette eingehen, man sei irgendwo da, wo Landmann und Vieh sich gute Nacht sagen.

Es ist gar nicht so lange her, da war es auch so. In Crange, am Rhein-Herne-Kanal, wo man eben die türkischen Viertel von Wanne hinter sich gelassen hat, trifft man auf ein Nest von Fachwerkhäuschen aus dem 18. Jahrhundert, die mit ihren schiefen Wänden und den wettergebräunten Riegeln, mit ihren Gott, Glück und gute Gaben beschwörenden Inschriften einen Eindruck von der dörflichen Idylle geben, die das Ruhrgebiet prägte, bevor die Kohle kam. Es ist, obzwar bewohnt, ein Freilichtmuseum und auf seine Weise ebenso irreal wie die Buden und Bahnen der Schausteller, die hier zur Cranger Kirmes alljährlich ihre Zelte aufschlagen.

Aber das ist schon alles, was der Bergbau übriggelassen hat an vorindustrieller Vergangenheit. Das Ruhrgebiet, Europas größter Industrieraum, ist eine der bevölkertsten Regionen. Herne, eine Stadt mit knapp 180.000 Einwohnern, rühmt sich der höchsten Siedlungsdichte im Pott, und Wanne-Eickel, das zu Herne gehört - was nicht alle so sehen mögen -, nimmt diesbezüglich gar den Spitzenplatz ein.

Keine Stadt ist hier entstanden, wie Städte zu entstehen pflegen, von einem Zentrum aus, mehr oder minder nach Plan und, allmählich größer werdend, ausgreifend in die Nachbarschaft und sich Dorf um Dorf einverleibend. Das ganze Ruhrgebiet hat kein Zentrum, ist eine Agglomeration von Zechensiedlungen, die um Schachtanlagen und Fördertürme gruppiert sind und zusammengehalten werden von einem Netz von Schnellstrassen und Autobahnen, in dessen Maschen sie hängen wie Vogelnester, die jederzeit herunterfallen können. Niemand ist hier im Mittelpunkt, und darum ist es jeder. Das eigentümliche Heimatgefühl, das etwa die Kumpel einer Zeche wie Unser Fritz zusammenschweißte, findet seinen Ausdruck in der zugehörigen Kolonie, deren zweistöckige, aneinandergereihte Backsteinhäuser einen Hof von Kleingärten und Lauben umschließen, wo man Grünkohl und Karnickel gezogen und seine kleine Welt genossen hatte, bevor die Satellitenschüssel die große in die Stube brachte. Die Kohlelore, bepflanzt mit Geranien, steht noch als Requisit für dieses Welttheater, das seine letzte Vorstellung längst gegeben hat. So unmenschlich der Bergbau war, hier oben hat alles sein menschliches Maß. Da sind keine Häuser in den Himmel gewachsen, ist alles überschaubar geblieben, als hätte man einen Ausgleich schaffen müssen für die schreckenerregenden Tiefen, in denen man sein Arbeitsleben verbrachte. „Sorgenfrei“, „Unverzagt“ oder „Unter Brüdern“ taufte man etwa die Kleingärten, in denen man unter sich blieb, außer Reichweite der Schlotbarone, die ihre Villen anderswo hatten. Jetzt, wo alle Zechen aufgelassen, alle Fördertürme abgerissen und alle Halden abgetragen sind, zeugen nur noch die teuer zu sanierenden Industriebrachen von einst. Willy Brandts Vision vom „blauen Himmel über der Ruhr“ von 1972 ist Wirklichkeit geworden, und Wanne-Eickel zeigt sich als ein Beispiel jener postindustriellen Provinz, die von der Provinz die Beschaulichkeit, von der Industrie aber den Pioniergeist und ein gesundes Selbstbewusstsein geerbt hat.

Dass immer noch „der Bergbau umgeht“, wie die Einheimischen sagen, irritiert den Fremden mehr als sie selber. Ihm kann an einer Straßenkreuzung zumute werden, als hätte er LSD geschluckt - da fällt, in sonst topfebener Gegend, die Rathausstrasse unversehens in die Tiefe, nimmt die Quartierstrasse, die sie quert, gleich mit und verbiegt das Pflaster, dass es nur so eine Art hat. Der Horror vacui, der da unten in den alten Flözen sein Unwesen treibt, gestaltet die Oberfläche mit. Nichts in dieser Landschaft, das nicht aufgerissen und untertunnelt, plattgewalzt und unterstützt wäre. In der Wohnkolonie Unser Fritz gibt es Mieter, die haben die Schiffe auf dem Kanal, die nun über ihren Köpfen kreuzen, noch unten durchfahren sehen.

Wirft man einen Blick auf die Statistik, könnte einem bange werden um den Frieden in Wanne-Eickel. Mit 18 Prozent Arbeitslosen erreicht es nahezu den Rekord der neuen Bundesländer. Doch da ist nichts zu spüren von dieser stillen, depressiven Wut, die in der Ex-DDR mit Händen zu greifen ist, nichts von Hass auf die Ausländer, die immer an allem schuld sind, wenn es abwärts geht. Noch dauert die Solidarität, die unter Tage lebensnotwendig war, über Tag fort. Zumal der echte Wanne-Eickeler ohnehin ein Zugewanderter ist, wie die zahlreichen polnischen Namen an den Türschildern verraten. Zu den Jablonskis, Szapsziks und Kaczmareks der Jahrhundertwende sind in den siebziger Jahren die Aygüns, Celiks und Yüksels hinzugekommen.

Durchstreift man Wanne-Eickel von Süd nach Nord, in derselben Richtung, die der Bergbau nahm, geht man eine soziale Stufenleiter hinunter, die vom Mittelstand bis zur Arbeiterschaft reicht. Die Vorgärten sagen alles. Wo Immergrün im Zierrasen steht, Gartenzwerge den Grill hüten und an den Türen Schilder mit der Aufschrift „Vorsicht! Wachsamer Nachbar“ kleben, hat man es weniger nötig, von eigener Ernte zu leben, als den Besitzstand zu wahren. Wo Wälder von Bohnenstangen rauschen, sind – darauf kann man so sicher zählen wie auf den BMW oder Mercedes, der vor dem Haus steht – Türken nicht weit, die sich das Prestigeauto so vom Munde absparen. Sie sind es, die den Bergmannsbrauch des Nutzgartens heute weiter pflegen.

Die Türkei beginnt, wo die Fußgängerzone von Wanne endet. Die Schilder weisen hier nicht mehr nach Gelsenkirchen, Bochum oder Castrop-Rauxel, sondern nach Ankara, Istanbul und Izmir; Destinationen von Reisebüros, die auch sonntags offen haben und ihre Landsleute in die Heimat bringen. Wo mancher dann, wie man sagen hört, Heimweh nach Deutschland bekommt. Was einmal der deutsche „Tante-Emma-Laden“ war, ist nun so gut ein türkisches Geschäft wie der Shop mit orientalischem Krimskrams in Gold und Glanz und Glas. In den Teestuben, hinter heruntergelassenen Jalousien, läuft der Fernseher mit türkischem Programm, sitzen Männer, schwatzen und vertreiben sich die Zeit. Sie heißen einen so auffällig willkommen, dass man annehmen muss, kein Fremder verirre sich jemals dahin.

Auch der Türkisch-Deutsche Kulturverein e.V., der mit dem Schild „Komm, was du auch seist, komm!“ über der Tür zum Besuch lädt, dürfte kaum eine bilaterale Angelegenheit sein. Was Engin Madenci, seinen ersten Vorsitzenden, nicht hindert, einem stolz alles zu zeigen: die alkoholfreie Bar mit der islamischen Bibliothek, bunten, goldbedruckten Kommentarbänden zum Koran, den zerschlissenen Billardtisch und den Kickerkasten im Keller, die Moschee – eine von elf in Herne – im ersten Stock und das neue, noch Leim ausdünstende Büro für den Gästeempfang. Eine religiöse Vereinigung, aber keine fundamentalistische, für die der Bergmann Madenci alle seine Freizeit opfert, jeden Nachmittag vier Stunden, bevor er um zehn zur Schicht einfährt, die bis sechs Uhr morgens dauert. Nicht rauchen, nicht trinken, die Kinder von Drogen abhalten und im Islam unterrichten: Nach dem Tod, sagt Engin Madenci, gibt es nur die Hölle und das Paradies und – „wo bekommt man sonst eine Fanta für 60 Pfennig?“

Es gibt 17,7 Prozent Ausländer in Wanne, aber diese Zahl besagt nicht eben viel. Engin Madenci zum Beispiel, der vor drei Jahren seinen deutschen Pass bekommen hat, fällt nicht darunter, obschon er sich der türkischen Kultur und dem Islam verpflichtet weiß. Er ist, da die BRD keine Doppelbürgerschaft duldet, offiziell kein Türke mehr.

Seit 1994 sind die Gemeinden Nordrhein-Westfalens, die mehr als 5.000 ausländische Einwohner zählen, verpflichtet, „zur besseren Integration und Beteiligung am Leben in der Kommune Ausländerbeiräte zu bilden“. Wahlberechtigt sind alle Ausländer, die mindestens 18 Jahre alt sind, ein Jahr rechtmäßig in Deutschland leben und drei Monate ihren Hauptwohnsitz in der Gemeinde haben. Wählbar, neben den Wahlberechtigten, sind alle Bürger, so dass auch Eingebürgerte sich engagieren können. Das 25köpfige Gremium in Herne, zu achtzig Prozent türkisch, hat nur beratende Funktion und ist auf das Wohlwollen von Verwaltung und politischen Entscheidungsträgern angewiesen. Davon dürfte es durchaus ein bisschen mehr geben, meint Yunus Ulusoy, der Vorsitzende. Mehr Gehör wünschte man sich namentlich zu Schul- und Erziehungsfragen und zur Stadtentwicklungspolitik. Islamunterricht in den Schulen, eigene Friedhöfe für Muslime waren Themen, ohne dass Einigkeit erzielt worden wäre. Sprachprobleme stehen oft zur Debatte. Eine der jüngsten Auseinandersetzungen drehte sich um die Bestimmung, den Ausländeranteil in Kindergärten pro Gruppe auf 30 Prozent zu beschränken. Dass die Stadt eine Notgruppe mit fast nur türkischen Kindern eingerichtet hat, wird beklagt, würden diese doch demotiviert, sich zu integrieren. Aber es soll auch türkische Eltern geben, die ihre Kinder abmelden mit der Begründung, in den Kindergärten gebe es zu viele Ausländer, so dass ihre Sprösslinge nicht Deutsch lernten. Mit Türkisch kommt man bestens durchs Leben; vom Gemüseladen übers Fachgeschäft bis zum Arzt und Rechtsanwalt braucht, wer will, kein Wort Deutsch zu sprechen. Vor allem die nicht berufstätigen Frauen bleiben so abseits.

Und natürlich sind auch Türken nicht gleich Türken. Dass eine bis zur Nasenspitze verhüllte Türkin perfekt Deutsch spricht, den Führerschein besitzt und berufstätig ist, gehört zu den Merkwürdigkeiten einer Gesellschaft, die scheinbar widersprüchliche Elemente verschiedener Kulturen mischt und daraus etwas schafft, was es weder hüben noch drüben gegeben hat. Zum kulturellen Frieden tragen im übrigen nicht wenig die zahllosen Sportvereine bei; wer boxt, prügelt sich nicht.

Selbst Werner Brinsa, der als Oberkommissar der Polizeiwache Wanne-Eickel mehr über die schwarzen Seiten seiner Schäfchen weiß als sonst jemand, muss, befragt nach den Niederträchtigkeiten seines Reviers, ein ganzes Weilchen nachdenken. Ja, vor ein paar Tagen, da packten sie drei Polen am Schlafittchen, die eben ein Dutzend Karpfen aus dem Stadtteich gefischt hatten. „Mangelndes Unrechtsbewusstsein“ sieht der Polizist als Hauptproblem, etwa auch wenn Türken verbotenerweise Schafe schlachteten oder ihre Kinder über die Schrebergartenhecke hievten, damit sie etwas zur Selbstversorgung beitrügen. Man müsse, sagt Werner Brinsa, ihnen dann halt erklären, dass das nicht geht. Wenn man den Endfünfziger so vor sich sieht, mit seinem Kinnbart und dem gemütlichen Lachen, glaubt man ihm gerne, dass er das auch ganz gut versteht. Schließlich ist er selber in einem Haus mit Ausländern aufgewachsen, und daran erinnert er sich als an die schönste Zeit seines Lebens. Kein Fest, das ausgelassen worden wäre, und dann die Hahnenkämpfe mit den jungen Italienern, die oft nicht ganz erfolglos ihren Mädchen nachstellten.

Seit bald drei Jahren fährt Werner Brinsa mit der Mobilwache raus, einem mit fünf Mann besetzten, mit Gute-Laune-Klebern bepflasterten VW-Bus, der täglich morgens und abends an zwei Standorten parkiert wird und als Kontaktstelle zur Bevölkerung dient. Man plaudert mit Rentnern, Kindern, Ausländern, hört sich ihre Sorgen und Nöte an und bekommt auch schon einmal einen Tipp, wo ein Ding gedreht werden soll. Eine Art englisches Bobby-Prinzip; der gute Polizist, nicht der böse Bulle. Im übrigen sollen vermehrt Beamte türkischer Herkunft eingestellt werden. Man geht die Dinge praktisch an. Als passionierter Motorradfahrer hatte Werner Brinsa schon in den sechziger Jahren die Rockergangs an der Cranger Kirmes im Zaum gehalten, indem er ihren Maschinen Polizeiaufsicht gewährte mit dem Hinweis, wenn sie Zoff machten, kriegten sie diese nicht wieder. „War nicht ganz legal, hat aber funktioniert.“

Was sonst in Herne läuft, geht nicht über das landesübliche Maß hinaus; Kleinkriminalität, Drogenhandel, gelegentlich ein Mord, meist im Milieu. Dass in den zahlreichen Spielhallen Geld gewaschen wird und jugendliche Arbeitslose mit Tausendmarkscheinen in der Hosentasche kaum nur vom Sozialamt leben, ist zu vermuten.

Als 1993 in Solingen bei einem Brandanschlag Jugendliche fünf Türkinnen ermordeten, richtete man in Herne einen „runden Tisch“ ein, um solchem zuvorzukommen. Der familiären Atmosphäre, die einem die Stadt, mitsamt allen Zwistigkeiten, vermittelt, ist es zu danken, dass es nicht soweit gekommen ist. Hier kennt jeder jeden, was der Besucher unschwer daran erkennt, dass auch er bald an keinem Tresen mehr stehen kann, ohne als alter Bekannter begrüßt zu werden.

Manfred Urbanski hat als letzter Oberbürgermeister von Wanne-Eickel und als erster des neuen Herne den schwierigsten Akt dieser Familiengeschichte aus- und durchgestanden: die Verheiratung der beiden Städte. Keine Liebes-, sondern eine Mussheirat. Sein Amt, das er von 1969 bis 1984 innehatte, war damals noch ein Ehrenamt. Das bedeutete oft genug einen Sechzehnstundentag und jedes Wochenende „Grosseinsatz“: kein Verein, von den Geflügelzüchtern bis zur Blasmusik, der das Stadtoberhaupt an seinem Festanlass missen mochte. Sein Brot verdiente der gelernte Maschinenschlosser als Gewerkschaftssekretär. Es war in einer Zeit, in der man, wenn man morgens ein weißes Hemd anzog, sich abends nicht mehr damit zeigen konnte. Doch der Niedergang der Kohle war besiegelt, der Zusammenschluss kleinerer Städte zu größeren eine beschlossene Sache. Fragte sich nur, wer mit wem. Im Gespräch, das eine Flasche Schnaps und ein paar Flaschen Bier dauert, erläutert der joviale Hüne jede einzelne dieser jahrelang diskutierten Varianten, bis dem Zuhörer darob schwindlig wird. Wenn es hier auch müßig ist, sie – soweit noch erinnerlich – en détail auszubreiten, eins bleibt sicher: Wanne-Eickel schloss sich mit Herne zusammen, um nicht von Bochum verschluckt zu werden. So wie das dann Wattenscheid passierte, das glaubte, sich wie Asterix' Gallier bis zum letzten sträuben zu müssen. „Da stehe ich heute noch zu, verflixt juchhe!“, sagt Manfred Urbanski, der sich gefallen lassen musste, als Verräter beschimpft zu werden.

Doch wiedergewählt haben sie ihn, und aus seinem Amt ist er schließlich freiwillig geschieden. Aber bis heute passt manchem Wanne-Eickeler nicht in den Kram, 1975 den schönen Städtenamen verloren zu haben, den man 1926 erhielt, als sich Wanne und Eickel ihrerseits zu einer Stadt vereinten. (Was indes die Wanner wiederum nicht hinderte, im Herzen Wanner zu bleiben, und die Eickeler desgleichen.) Doch als Wanne-Eickeler Herner zu werden, ging denn doch ein bisschen zu weit. Zumal das schöne Wanner Rathaus samt Rundbogenfenster, Schweifgiebel und Zwiebelturm nun „Am Friedhof“ ein Aschenputteldasein fristen muss, während das in der Herner Bebelstrasse in Amt und Würden steht. Wie aus gewöhnlich gutunterrichteten Kreisen verlautet, ist der Brauch der Wanne-Eickeler, Sozial- wie Christdemokraten, nach Erledigung der politischen Geschäfte im Rat „sich tüchtig einen zu pitschen“, wie das auf ruhrdeutsch heißt, inkompatibel geblieben mit der seriösen Solidität der Parteigenossen von Herne. Was Wunder, dass die „Aktenführung“ der lustigen Brüder manchem von ihnen ein Gräuel war und ist.

Unangetastet geblieben ist die Macht der SPD, die hier, wie böse Zungen höhnen, konservativer sein soll als die bayrische CSU. Seit vierzig Jahren am Hebel, hat sie in den letzten Kommunalwahlen von 1994 satte 58 Prozent der Stimmen auf sich vereint; 28,8 Prozent entfielen auf die CDU, 9,3 Prozent auf die Grünen. Die FDP ist nie über die 5-Prozent-Hürde hinausgekommen, so dass eine Art informelle große Koalition regiert, der die Grünen auf die Finger sehen. Aber auch diese gehören hier gewissermaßen zur Familie, sind ihre Aktivisten doch mehrheitlich aus der SPD ausgetreten oder von den Jusos abgesprungen. Durchwegs „Realos“, engagieren sich die Grünen in einer von der Industrie jahrzehntelang in rücksichtslosem Raubbau verseuchten Landschaft für Sanierungs- und Umweltmaßnahmen, für Fahrradwege und Entwicklungsplanung.

Bei soviel Familiensinn scheint man jetzt geradezu erleichtert, dass man auch in Herne einen veritablen Skandal sein eigen nennen kann, der um so mehr zu Spekulationen reizt, als die Fakten nicht ausreichen, überregionale Schlagzeilen zu machen. Die Stadt hat sich 1995 bei der Anmietung eines Hauses zur Unterbringung von Asylbewerbern offenkundig über den Tisch ziehen lassen und muss nun gemäss einem dieses Frühjahr ausgehandelten Aufhebungsvertrag fast 600.000 Mark hinblättern für Schäden, die angeblich von den Insassen verursacht worden sind. Die Grünen haben Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft Bochum eingereicht, und abzuklären bleibt, ob da jemand unter der Hand kassiert hat oder nicht.

Wi es wirtschaftlich weitergeht nach dem Ende der Monokultur, wird mit entscheidend sein für den sozialen Frieden. Noch hat die Hüls-Chemie zwei Werke in Herne, doch Blaupunkt, einst freudig begrüßt, ist mittlerweile ganz nach Malaysia abgezogen. Heitkamp, ein Familienunternehmen im Baugewerbe, und die Stadtverwaltung selbst gehören zu den größten Arbeitgebern der Kommune, die vierzig Prozent Auspendler zählt und stark überaltert ist. An den Kaufhäusern lässt sich ermessen, wie es um die Prosperität bestellt ist; nach der Städtefusion hat Hertie in Wanne-Eickel dichtgemacht, und Karstadt, das seine Filialen in drei Kategorien unterteilt, führt eine der letzten in Herne - einer Stadt, an der der IC der Bundesbahn wie an Dürrenmatts Güllen ohne Halt vorbeisaust. Nur der Güterbahnhof und der Hafen, gebaut zum Transport von Kohle, Stahl, Erzen und Abraum, sind bedeutend geblieben als große Umschlagplätze für Stückgut.

Doch an Zuversicht will man es so wenig fehlen lassen, wie man auf das rote Rezept verzichten mag, wonach der Staat der beste Vater aller Dinge sei. Am Eickeler Markt, wo 1989 die Hülsmann-Brauerei ihre Pforten schloss, weil sie die Löhne nicht mehr ausbezahlen konnte, hat die Stadt deren Betriebsgebäuden neues Leben eingehaucht. Eine Gaststätte im alten Sud- und Treberhaus, mit dem Braukessel als Kulisse, ist nun Treffpunkt der lokalen Kulturszene; die dazupassende städtische Wohnsiedlung nebenan, eben erstellt, verleugnet trotz coolem Outfit die Abkunft von den heimischen Zechenkolonien nicht.

Mit einem halben Dutzend Städtepartnerschaften in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralamerika entschädigt sich Herne für das Schicksal, als Teil des Ruhrgebietes für die Regierungen jedweder Couleur immer nur den Kumpel gespielt zu haben. Bis Mitte der sechziger Jahre gab es im Kohlenpott keine Universität; wer da lebte, hatte zu malochen, und damit basta. Hénin-Beaumont in Frankreich, Wakefield in England, die Insel Ometepe im Nicaraguasee, Eisleben in der Ex-DDR, Konin in Polen und Belgorod in Russland: Das sind die Kumpels, mit denen man via Sportvereine und Chorgemeinschaften, Schulklassen und Jugendorganisationen, Musikgruppen, Künstler- und Wirtschaftsverbände freundnachbarlichen Kontakt pflegt. Und dass etwa aus dem fernen Belgorod meist doppelt so viele angereist kommen wie angemeldet, lässt man so gelassen über sich ergehen wie die Festfreude der Russen, die selbst da noch durchhalten, wo sogar ein gestandener Wanne-Eickeler schlappzumachen droht. 

powered by:

Home
Lesen Live!
Noch mehr Bücher
Filme
Bild der Woche
Zeitreise
Fundgrube
Das Dorf
Rekorde
Kult
Traurige Kapitel
Menschen
Schräges
Girls & Boys
Bildersuche
Kriegstagebuch
Shop
Kontakt
Presseberichte
Ruhrgebiet

Wanne-Eickel

Fundgrube