Beat, Rock & Pop in Wanne-Eickel

Die Jahre 1965 – 1980

1980 hatte ich für eine Dokumentation mit dem Titel „Scene Wanne, 1960-1980“ einen Abriss der Wanne-Eickeler Beat-, Rock- und Popmusik zwischen 1965 und 1980 geschrieben. Das Heft wurde von Mitgliedern der damaligen „Initiative Musik“ veröffentlicht und ist heute leider nicht mehr erhältlich. Der folgende Text ist eine etwas überarbeitete Fassung meines damaligen Beitrags.

Was die Zeitungen noch 1965 verschämt „moderne Jazzmusik“ nannten, was nicht stubenrein erschien und von einer kleinen Schar exotischer „Pilzköpfe“ vorgetragen wurde, bekam auch in Wanne-Eickel seinen Namen, kroch aus den muffigen Kellern und zugigen Proberäumen, wurde heiß diskutiert, fand Anhänger und (wie es sich gehört) jede Menge Feinde: der BEAT. Meist privat, aber auch von aufgeschlossenen Heimleitern, Sozialarbeitern(!) und Pfarrern (!!) gefördert, schaffte es die Beat-Musik auch in Wanne-Eickel in die Öffentlichkeit.

Der Weg dahin und in die Medien (damals waren „die Medien“ drei Lokalzeitungen) erwies sich als ausgesprochen schwierig. Auf die Instrumente zu sparen, die Anlage abzustottern, um Übungsräume zu betteln und sich die Finger wund zu proben, waren für die meisten Musiker Selbstverständlichkeiten. Um allerdings von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, bedurfte es allerdings weiterer, damals unumgänglicher Maßnahmen, die nicht selten an Schwachsinn grenzten.

Roadrunners

Spektakulär waren sogenannte Beat-Wettbewerbe – meist privat von „Gönnern“ finanziert und organisiert. Es gab aber auch Städte (Recklinghausen zum Beispiel), die diese obskuren Veranstaltungen zu Bestandteilen der öffentlichen Jugendpflege machten und entsprechend förderten. Für Bands, die vor einem größeren Publikum spielen wollten, waren die Beat-Konkurrenzen ein unumgängliches Muss. Je besser die Platzierung, je überregionaler der Wettbewerb, desto häufiger waren die dann folgenden Auftrittsmöglichkeiten, desto größer waren die Fangemeinden und die Gagen kletterten vom warmen Abendessen auf solch astronomische Summen wie 100 oder gar 200 Mark.

Legendär war der 1967 bundesweit zur Kenntnis genommene Weltrekord im „Dauer-Beat“ zugunsten der Aktion Sorgenkind – eingespielt von den Nightbirds in 21 ¼ Stunden im Jugendkeller der Kirchengemeinde Wanne-Mitte.(siehe hierzu auch das Kapitel „Rekorde“) Beat und Aktion Sorgenkind – eine für diese und die Folgezeit symptomatische Kombination. Nicht etwa, dass man das Fehlen eines aufrichtigen Engagements der damals Beteiligten unterstellen wolle, jedoch fiel bei fast allen Gruppen und Musikern ihr stetes Bemühen auf, sich in der Öffentlichkeit und in den Medien als brave, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu präsentieren. Nicht etwa als Rebellen oder Außenseiter, sondern als artige Jungs von nebenan, die nur einmal in der Woche in bunten Klamotten auf der Bühne standen und die Haare zwar lang, aber gepflegt (!) trugen. Denen man natürlich auch mal die eigene Tochter anvertrauen konnte.

Our Obsession: Klaus Niehaus (Schlagzeug) und Gisbert Holdkamp (Bass)    Foto: Oskar Neubauer

Die Beatmusiker legten Wert darauf, ihre bürgerlichen Berufe, Wert- und notfalls auch Moralvorstellungen zu betonen. „Streit aus dem Wege gehen“ und „nicht anecken“ schienen zu zentralen Mottos der Bands gereift zu sein. Jedenfalls wurden sie gebetsmühlenartig runtergeleiert und von der örtlichen Presse zeilenlang zitiert und gutgeheißen. Die doch bisweilen laute Musik und die Haartracht ließen sich verschmerzen, es waren ja ansonsten nette Jungs, die Wanne-Eickeler Beatmusiker. So etwa wie die Rolling Stones oder die Pretty Things, die „bösen Buben“ des Showgeschäfts, die Bürgerschrecks und Beatniks blieben Wanne-Eickel erspart. (Noch!) Peter Frankenfeld lud die Weltrekordler ein und bedankte sich vor laufenden Kameras für den Sorgenkind-Beat.

Die Nightbirds waren wohl die exponiertesten Vertreter dieser Phase bis etwa 1969, was aber nicht nur an ihrem spektakulären Weltrekord lag. Den Beweis der musikalischen Fähigkeiten ihrer Bandmitglieder traten z.B. Harald Bonsak und Reiner Henrichs später in der Big Band der Jungen Chorgemeinschaft an, der Vorläuferin der späteren JKS-Big Band. Im Gegensatz zu den Nightbirds sind Namen wie Crazy Combo, Les Marionets, Maintains oder Le Kilts bald wieder in Vergessenheit geraten. Auch an Gruppen wie Byonders, Roadrunners und Yellow Rats erinnert man sich nur, weil dort Leute ihre ersten Gehversuche machten, die auch in den Achtzigern noch als Rock- und Jazzmusiker auf der Bühne standen oder über Jahre den Klang der Wanne-Eickeler Rockmusik mitgeprägt hatten. So etwa Bernd Heßling von den Byonders, der zusammen mit Uli Engles von den Yellow Rats 1970 das leider nur kurzlebige aber trotzdem viel beachtete Trio ZAK gründete und später auch noch einmal bei Zero Zoom auftauchte.

Absolutely Free: Holdkamp, MĂĽller, Engels, Grzan (v.l.)           Foto: Oskar Neubauer

Ulli Engels trommelte sich über Absolutely Free und andere kurze Gastspiele (Zero Zoom) bis nach Köln durch, wo er lange Zeit mit dem bekannten Gitarristen Ali Claudi in dessen Soul Four spielte. Ein Mitglied der Roadrunners war auch J.G. Fritz, der in Ende der Siebziger bei der Piet Kröte Peep Show das Saxophon blies. Die Gruppe Our Obsession, die erstmalig 1968 in den Lokal-Schlagzeilen auftauchte, sollte eine etwas längere und bewegtere Geschichte haben: Kern der Band waren Oskar Neubauer (Gitarre), Gisbert Holdkamp (Bass – später Absolutely Free, Zero Zoom und Rock Circus), Klaus Niehaus, der später vom Schlagzeug zum Bass wechselte (später Attica, Shamrock 3 / 4) und Willi Hellmann (Gesang, Gitarre), dessen Stationen bis zu seinem Weggang nach München sich wie ein halbes Lexikon Wanner Rock-Musik lesen: Our Obsession, Zero Zoom, Terra Moss, Attica, Willi and his Hellmen und Rock Circus waren einige seiner Stationen neben diversen äußerst kurzlebigen Projekten.

In den Siebziger Jahren existierte Our Obsession nur noch als loser Zusammenschluss, der sich zu einigen – wahrscheinlich lukrativen – Auftritten immer mal wieder zusammenfand. Auch hier traf man einige alte Bekannte wieder, so z.B. Norbert Müller und Achim Krämer, beide bekannt geworden durch das Georg Gräwe Quintett und Zero Zoom, was ihnen überregionale Bekanntheit einbrachte und so manchen lukrativen Job, z.B. auf Tour mit Juliane Werding oder Jürgen Marcus.

Angesichts der verwirrenden Fülle von Längs- und Querverbindungen im Bereich der „progressiven“ Musik, sind die Wege von Bands wie Ricky and the Countains oder Destination einfacher nachzuzeichnen. Charakteristisch war beiden Gruppen, dass ihre Besetzungen relativ konstant blieben, sowie die Art ihrer Musik, die man am ehesten als Soft-Rock bezeichnen könnte. Während bei einigen der zuvor genannten Bands Rhythm & Blues-Einflüsse (Rolling Stones, Jeff Beck) dominierten, sich die Mods-Musik widerspiegelte (Who, Small Faces), baute sich das Repertoire von Ricky und den Destination auf gefälligen, melodiösen Songs auf.

Zero Zoom - die erste: Peter Grzan, Norbert MĂĽller, Oskar Neubauer, Achim Krämer, Harald Dau (v.l.)  Foto: Oskar Neubauer

Ihre instrumentalen Fähigkeiten rissen nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin und waren verglichen mit dem Können anderer Wanner Gitarren-, Trommel- oder Keyboard-Artisten eher hausbacken. Im Vordergrund stand bei ihnen der meist mehrstimmige und anspruchsvolle Gesang – eingebettet in glatte, gefällige Arrangements. Die Zeit von Ricky and the Countains begann etwa 1967, vier Jahre später verlor sich ihre Spur. 1969 schickten sich die Destination an, ihre Nachfolge anzutreten. Die Insider-Szene hörte „Progressiv“ und „Undergound“ und hielt die Wanne-Eickeler Bee Gees außen vor. Einige Mitglieder der Szene stahlen sich aber doch mal gelegentlich in ein Destination-Konzert – ich habe sie gesehen... Destination schien davon unbeeindruckt, belegte man doch regelmäßig vordere Plätze bei den Beat-Wettbewerben, die es auch Ende der Sechziger noch gelegentlich gab.

Ganz anders waren da Absolutely Free, die auch ab etwa 1969 ihr Unwesen trieben. Wenn es jemals so etwas wie eine „Kult-Band“ in Wanne gegeben hatte, dann waren sie es. Und eine „Super-Group“ für damalige Verhältnisse (und für Wanne-Eickel!) waren sie allemal: Uli Engles waren als Musiker ja schon hinreichend bekannt, Peter Grzan (man kannte ihn später als Piet Kröte) begann, sich als Happening- und Aktionskünstler einen Namen zu machen. Noch ohne Referenzen war bis dato lediglich der 16-jährige Gitarrist Norbert Müller.

Willy Hellmann
Foto: Oskar Neubauer

Der Bandname, ein Songtitel von Frank Zappa, war auch Motto der Gruppe: Gewohnte Strukturen aufbrechen, mit dem Medium Musik freier umgehen – nicht zuletzt ein Verdienst Grzans, der die Auftritte der Band stellenweise zu Happenings ausgestaltete. Weder die Auswahl des Repertoires noch die Präsentation verleugnete Zappa-Inspirationen. Wo andere Gruppen ihr Image und ihren Stil kontrolliert pflegten, setzte Absolutely Free das um, was „Sache war“: die Wut, den Spott, den Spaß, die Freude der Jugendbewegung und Jugendproteste.

Auch nach Wanne-Eickel schwappten die Ausläufer der Studentenunruhen in den Metropolen. Mit der für Wanne-Eickel typischen Zeitverzögerung nisteten sich die APO- und SDS-Parolen vor allem in den Köpfen der widerspenstigen Schüler ein. Am Gymnasium Eickel amtierten Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger linke Schülersprecher, eine unbequeme und unflätige Schülerzeitung (SOS) schien dem Chaos Vortrieb zu leisten. Streiks waren angesagt, und die Gymnasiasten schreckten selbst vor einem Demonstrationsmarsch zum Wanner Rathaus nicht zurück, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Absolutely Free war meist mitten drin, beteiligte sich an Feten und Aktionen, provozierte, verspottete und riss mit, war einfach aus der Szene und den Ereignissen nicht wegzudenken.

Norbert MĂĽller       Foto: Uwe HIrschmann

Absolutely Free erlebte die 70er Jahre leider nur noch ansatzweise, aber wichtige Impulse waren gesetzt. Mehr und mehr Rockmusiker begannen, sich von ihren angl-amerikanischen Vorbildern zu lösen. Eigene Kompositionen nahmen immer größeren Raum ein und der Trend zum exzessiven Ausleben seiner solistischen Fähigkeiten hielt auch in Wanne-Eickel Einzug. Noch war die musikalische Basis der zum Rock weiterentwickelte Beat sowie der Blues, der gerade wieder mal eines seiner Revivals hatte. Vermehrt konnte man aber auch „Underground“- und Jazz-Einflüsse hören. Mit den Haaren der Musiker wurden auch die Stücke länger, neue Sounds wurden ausprobiert und die ersten Gruppen wagten sich an die Synthese von Rock und Jazz.

Das traditionelle Instrumentarium aus Gitarren, Bass und Schlagzeug wurde erweitert, Bläser und Keyboarder hielten Einzug in die Rockszene. Stilistische Einflüsse von Gruppen wie Blodwyn Pig, Colosseum, Warm Dust oder Chicago läuteten die zweite Phase der Wanne-Eickeler Rockmusik ein. Der Übergang war nahtlos – aber einzentrales Ereignis sollte den Wendepunkt deutlich dokumentieren: POBLUEJAM im Februar 1970 war das bis dahin größte Konzertereignis in Wanne-Eickel – zu Gunsten der Aktion Sorgenkind, natürlich (siehe oben). Erst im Jahr darauf gab es noch eine Steigerung, zumindest hinsichtlich der Lautstärke: Black Sabbath in der Sporthalle Wanne-Süd, eine abgrundschlechte Veranstaltung im Übrigen

Achim Krämer     Foto: Wolfgang Berke

. Der Saalbau war zwar auch nicht viel besser als die völlig indiskutable Sporthalle, öffnete aber anlässlich POBLUEJAM erstmals seine Pforten für Rockmusik. Und musste miterleben, wie seine heiligen Hallen von den weit über 500 Besuchern respektlos entweiht wurden. Die Stadtoberen entdeckten nach der Veranstaltung Fußtritte an der blütenweißen Wand des Foyers und sperrten für eine lange Zeit wieder den Kulturtempel für Rockmusik. Die Zeitungen schrieben in ihrer Berichterstattung zwar noch hartnäckig von einem „Beat-Konzert“, allen Beteiligten und Zuschauern war aber klar, dass diese Musik mittlerweile der Vergangenheit angehörte.

Zwar traten mit den Nightbirds, Our Obsession und Destination noch ehemalige Vertreter dieser Musik-Ära auf, doch auch ihr Stil hatte sich weitgehend dem Zeitgeschmack angepasst. Neben diesen Bands und der Big Band der Jungen Chorgemeinschaft tauchten auf diesem Festival neue Formationen auf, die als Lokalsensationen galten wie ZAK – oder sich anschickten das zu werden, was für die nächsten 10 Jahre Bestand haben (Satche’s Cane) oder noch Maßstab für den Entwicklungsstand Wanner Rockmusik werden sollte (Zero Zoom). Die bereits erwähnten Bernd Heßling und Uli Engels formierten mit Lerry Borsboom ein Trio, was angesichts der holländischen Staatsbürgerschaft des Bassisten und seiner ehemaligen Cuby & the Blizzards-Zugehörigkeit noch erheblichere Delikatesse bekam. Geschickte PR-Arbeit tat ihr übriges: Aus Leslies (rotierende Lautsprecher), Verzerrern und Effektgeräten wurde der neue „Flying Sound“, ihr zur Schau getragenes „Profitum“ hob die Erwartungen. Das musikalisch Gebotene überzeugte aber auch Skeptiker, und es war schade, dass diese Formation nur eine sehr kurze Lebensdauer hatte.

Zero Zoom - die zweite: Harald Dau, Norbert Müller, Achim Krämer, Bernd Heßling, Sigfried Gahl, Gisbert Holdkamp (v.l.)

Zero Toom setzte da andere Maßstäbe: Zwar verzeichnete man auch hier einen spektakulären Einstand, konnte man doch mit Harald Dau und dem erst 14-jährigen Achim Krämer als erste Gruppe im Ruhrgebiet zwei Schlagzeuger aufbieten. Jedoch sollte diese Band deutlich länger Bestand haben als ZAK und für die nächsten 10 Jahre Durchgangsstation für etliche, heute renommierte Wanne-Eickeler Jazzer und Rocker werden. Zooms Stil war im experimentellen Rock angesiedelt, aber auch schon damals mit einer deutlich spürbaren Neigung zum Jazz, die im Laufe der Jahre ein immer stärkeres Gewicht bekam. Neben den beiden Trommlern spielten 1970 noch Bernd Heßling, Gisbert Holdkamp und Norbert Müller bei Zero Zoom. Ebenso wie die Schreibweise der Band sich änderte (Zoom mal mit 2, mal mit 3 oder 4 „o“), wechselten die Besetzungen. Neben Norbert Müller, der so ziemlich alle Stationen von Zero Zoom überdauerte, gaben sich unter anderem folgende Musiker dort ein Stelldichein:

Georg Gräwe (Piano), der inzwischen vom Schlagzeug zu Saxophon und Klarinette gewechselte Harald Dau, Peter Habermehl zunächst am Bass, dann an der Gitarre oder Peter Grzan, der bei vereinzelten Gigs den Gesang übernahm. Die Gruppe wandte sich immer weiter dem Jazz zu, und nach dem Ausscheiden Norbert Müllers änderte die Gruppe 1974 ihren Namen in Georg Gräwe Quintett um. In der Formation spielte neben Gräwe, Krämer und Dau auch noch Jochen Bröker (Bass) und der Trompeter Horst Grabosch. Norbert Müller formierte nach seiner Bundeswehrzeit Zero Zoom neu und griff dabei auf die Pet Dodge-Gründungsmitglieder Peter Habermehl, Joe Haniß und Dietmar Witzke zurück. Zoom tauchte bis weit in die Achtziger Jahre immer mal wieder auf – konnte aber nicht mehr die Rolle spielen wie zu den Anfangszeiten der Gruppe. Georg Gräwe hat sich in Jazz-Kreisen einen hervorragenden Namen gemacht und war auch Jahre später noch präsent.

Talentschmiede Pet Dodge

Zurück zu den Anfängen der Siebziger: Den Impulsen des Pobluejam (übrigens ein Kürzel für Pop, Blues, und Jam-Session) folgte zunächst ein Gründungsboom bei den Rockfans. Lassen wir hier einmal die vielen Bands mit einer nur kurzer Halbwertzeit beiseite – erwähnt werden sollten allerdings noch Terra Moss. Von Achim Krämer und den Buntrock-Brüdern (Martin am Bass, Klaus: Gesang und Gitarre) als Trio gegründet, später mit Harald Dau zum Quartett erweitert und 1971 verstärkt um Willi Hellmann. In dieser Besetzung reiste Terra Moss im Rahmen eines Kulturaustausches nach Finnland, wo sie einige vielbeachtete Konzerte gaben.

Doch auch aus den vielen Namenlosen und längst vergessenen Gruppen kamen immer wieder Musiker, die sich später einen Namen in anderen Formationen machten: Norbert Sollbach, Ernst Kammann, Ingo Marmulla oder Manfred Lins, um nur einige wenige Namen zu nennen.

Im Gegensatz zu den Sechzigern, wo die Gruppen (unterstützt durch die Praktiken der Beat-Wettbewerb-Veranstalter) meist in Konkurrenz zueinander lebten, wurde die Szene in den 70ern vielschichtiger und transparenter: Die Musiker der verschiedenen Gruppen hatten untereinander mehr Kontakt, viele „wanderten“ und lebten in immer wechselnden Formationen ihre musikalischen Bedürfnisse aus. Einige Entwicklungen und Einrichtungen schlugen sich auch bei den Wanne-Eickeler Musikern, deren Kommunikation untereinander und mit den „Konsumenten“ nieder. Waren es auf der einen Seite Aktionen und sogenannte Happenings wie etwa in der Volkshochschule (wie das trotz Hartung als VHS-Leiter ging, ist mir bis heute nicht klar...) oder am Buschmannshof, so förderten auf der anderen Seite Einrichtungen wie der „Halbe Hahn“ oder bei schönem Wetter der zentrale Samstags-Treff auf der Wiese am Buschi (Buschmannshof – heute gottseidank versiegelt und zugepflastert) den Zusamenhalt, die Kommunikation und den Erfahrungsaustausch.

Dietmar Witzke   Foto: Wolfgang Berke

Gerade der „Halbe“ lieferte wichtige Impulse für zukünftige Entwicklungen, erkannte man doch in der gemeinsamen Arbeit und intensiven Kommunikation, dass das Aufbrechen verkalkter Strukturen, die Schaffung einer eigenen Kulturszene nur im gemeinsamen solidarischen Handeln möglich ist. Zwar schien die Energie der Beteiligten nach der verordneten Schließung des Halben Hahns 1974 zu verpuffen, doch es zeigte sich bald, dass die in langen Nächten gemeinsam diskutierten Gedanken, Wünsche und Probleme aufgegriffen und in Projekte, Aktionen und kontinuierliche Arbeit umgesetzt werden konnten. Greifbare Resultate waren z.B. die „Clupp Zupp“-Aktion, bei der sich 1974 die bekanntesten Wanner Rockmusiker zu einer Monster-Session auf der Hauptstraße zusammenfanden, um ihre Forderungen nach einem zentralen Treff- und Anlaufpunkt für junge Kulturinteressierte und –schaffende Ausdruck zu verleihen.

Ähnlich die Gründung von „Wunst“ 1976, wobei die Initiatoren versuchten, alternative Kultur in Ton, Bild und Wort in völliger Eigenregie zu gestalten und zu veröffentlichen. Und schließlich 1977 die Gründung der „Initiative Musik“ als Zusammenschluss von Musikern und Musik-Interessierten, die als Ansatz einer kontinuierlichen alternativen Kulturarbeit in Wanne-Eickel (und auch Herne) gesehen werden muss. An der Gründung der Initiative waren hauptsächlich Musiker aus dem Bereichen Jazz, Jazz-Rock und Avantgarde-Rock beteiligt. Diese Tatsache war nicht verwunderlich, hatte sich doch ab 1973 die eigentliche Rockszene kaum weiterentwickelt. Dass es zwischen 1973 und 1977 keine Rockmusik in Wanne-Eickel gab, soll damit nicht gesagt sein, jedoch waren die wenigen Gruppen, die einen kontinuierlichen Bekanntheitsgrad in Wanne halten konnten, fast ausnahmslos von alten Bekannten der Szene gegründet. Neben der Dierk Dengel Experience (Dengel war sogar Wattenscheider!) lässt sich hier noch Rock Circus erwähnen, eine Gruppe, die sich aus ehemaligen Mitgliedern von Our Obsession und Pet Dodge zusammen setzte.

Georg Gräwe (Piano) und Harald Dau
Foto: Wolfgang Berke

Ansatzweise ließen sich auch neue Entwicklungen verzeichnen, wenn auch der Eindruck entstand, dass der musikalische Nachwuchs eher zaghaft und schüchtern an die Öffentlichkeit trat. So etwa die Band der Koppenhagen-Brüder Bernd und Achim oder die Solistin Ulrike Haage (Gitarre, Tasteninstumente, Gesang), die auf einem zweitägigen Festival neben namhaften Vertretern der Wanner Jazz- und Rockszene 1974 in der Lutherkirche ihr Debüt gaben. Obwohl ihr Musikstil und die akustische Instrumentierung in den zurückliegenden Jahren in Wanne-Eickel kaum gespielt wurden (trotz der großen Popularität von Musikern wie Donovan, Raplph McTell oder Cat Stevens) und obwohl die Wanne-Eickeler Musikfans ihr Bedürfnis nach akustischer Musik deutlich artikulierten, verschwanden die Koppenhagens bald wieder von den Bühnen.

Ulrike Haage allerdings blieb weiter präsent und formierte später mit Dietmar Witzke, Peter Habermehl, Theo Schlüter (Piano) und Mani Lins (Bass) die Gruppe Epsiloon und stellte unter Beweis, dass man sie in Wanne-Eickel durchaus als Ausnahmeerscheinung bezeichnen konnte. So gelang es ihr als erster Frau, eigene musikalische Ideen sowohl alleine als auch im Rahmen einer Band umzusetzen – selbst wenn sie diese Band in späteren Interviews als Garagenband bezeichnete. Außerdem legte Uli Haage Mitte der Siebziger den Grundstock für eine jahrzehntelange Karriere, die sie zunächst nach Hamburg, später dann nach Berlin führte. Sie arbeitete mit FM Einheit von den Einstürzenden Neubauten, war langjähriges Mitglied der Rainbirds und ist nach wie vor musikalisch aktiv und in Kreisen avantgardistischer Musik eine bundesweit bekannte Komponistin, Interpretin und Arrangeurin.

Zurück nach Wanne-Eickel, wo die Szene in den Siebziger Jahren den Charakter eines permanenten Stückwerks zu haben schien, nimmt man einmal Gruppen wie Zero Zoom oder das Georg Gräwe Quintett aus.

Ulrike Haage

Was sich international in sterilen Erfolgskonzepten von Gruppen wie Genesis, Yes, Chicago oder Supertramp niederschlug, nämlich die permanente Wiederholung und Perfektionierung des einmal Erreichten, und das Fehlen von Gruppen, die es wagen, auf einem nicht so hohen Niveau wie die etablierten Musiker zu spielen, fand man auch in Wanne-Eickel. Eine beängstigende Barriere schien sich aufgebaut zu haben: Auf der einen Seite die Bühnenveteranen mit ihrer Erfahrung und ihren instrumentalen Fähigkeiten, die man gelegentlich noch in Wannes Sälen bewundern konnte, auf der anderen Seite die große Zahl von Leuten, die sich mit ihren ersten Gitarrenakkorden und Trommelwirbeln abmühte. Die Hemmschwelle, eigene Musik zu machen und sie an die Öffentlichkeit zu bringen, war erschreckend gestiegen, vergleicht man einmal den Standard, den sich Wanner Gruppen in den Sechzigern gesetzt hatten.

Erst gegen Ende der Siebziger Jahre kam wieder Leben in die Wanne-Eickeler Musikszene. Im Fahrwasser der internationalen Aufbruchs- und Erneuerungsstimmung, begünstigt durch die Einflüsse von Punk und New Wave gründeten sich wieder eine Vielzahl neuer Formationen in Wanne-Eickel. Ob sie nun Altbewährtes neu auflegten (wie etwa die Hardrock-Formation Invader, die Rock’n’Roller von den Rockheads oder Lärry) oder neue Wege beschritten wie zeitweise Zephyr Zwo und ganz besonders die Vorgruppe: Die Musikszene war wieder präsent, und auch im Veranstaltungsbereich wurden wieder Akzente gesetzt, so z.B. durch „Herne meets Wanne“, „Musik im Monopol“ oder „Musik und Bilder“.

Aber auch die Alten zogen ihre Rock’n’Roll-Schuhe wieder an: Was als Party-Gag auf einer Hochzeitsfeier begonnen hatte, etablierte sich Anfang der Achtziger als musikalischer Hauptexport Wanne-Eickels: die Piet Kröte Peep Show, ursprĂĽnglich hervorgegangen aus der Dierk Dengel Experience plus J.G. Fritz (Saxophon) und Peter „Kröte“ Grzan, feierte ihre größten Erfolge schlieĂźlich als Formation der beiden Letztgenannten plus (na wem wohl?) Zero Zoom als Begleitgruppe. 

Weitere schöne Fotos aus Wanne-Eickels Beat- und Rockszene finden Sie in der Fundgrube!

powered by:

Home
Lesen Live!
Noch mehr BĂĽcher
Filme
Bild der Woche
Zeitreise
Fundgrube
Das Dorf
Rekorde
Kult
Traurige Kapitel
Menschen
Schräges
Girls & Boys
Bildersuche
Kriegstagebuch
Shop
Kontakt
Presseberichte
Ruhrgebiet

Wanne-Eickel

Musikszene