Gondelteich |
Der Mann hatte Visionen! Als Wanne-Eickel im Zuge der rasanten Industrialisierung immer weiter zugebaut und Grünflächen knapp wurden, schuf Wilhelm Marzina neue. Auf einem trostlosen Acker, inmitten der bebauten Straßenzeilen von Hauptstraße, Florastraße und Heidstraße plante und realisierte der gelernte Zimmermann aus Altenessen wirklich Großes - und das nicht nur für Wanne-Eickeler Verhältnisse. Aber der Reihe nach.
Im Alter von 42 Jahren kam Marzina 1898 nach Wanne und kaufte dort die Gastwirtschaft Nehring an der Ecke Haupt- und Heidstraße. Wie viele Gaststätten zu der damaligen Zeit hatte Nehring einen kleinen Saal und einen netten Garten. In nur fünf Jahren erweiterte Marzina den Saal auf ein Fassungsvermögen von 1.000 Personen und kaufte nach und nach fast alle Grundstücke hinter seinem Garten auf, sein Besitz erstreckte sich bald von der Haupt- bis zur Rathausstraße und von der Flora- bis zur Heidstraße.
Konzertmuschel mit Gondelteich |
Platz genug also für ein großzügiges Ausflugslokal, wie es damals schwer in Mode war. Aber Marzina hatte größeres vor und erfand Freizeitvergnügen en Masse. Als erstes brachte er den Kinematographen nach Wanne, die Filmvorführungen in seinem Saal waren das erste Kinovergnügen in die Stadt. Kurz darauf legte er einen künstlichen Teich an, der in den Folgejahren auf 8000 m² wuchs - mehr als genug für sonntägliche Kahnpartien. Das Wasser pumpte Marzina aus etwa 50 Metern Tiefe ans Tageslicht. Dabei lief es nicht nur einfach in den See - nein, Marzina ließ es am Fuße einer künstlichen Ruine über Wasserfall und Mühlrad in die Tiefe rauschen. Die Pumpe betrieb Wilhem Marzina mit Windenergie - wahrscheinlich aber eher aus Kostengründen denn aus ökologischen Erwägungen.
Mehrere Terrassen- und Pavillonanlagen im Außengelände und ein inzwischen 8.000 Personen fassender Saal sprachen sich im gesamten Ruhrgebiet herum, die Flora des Wilhelm Marzina wurde zum Ausflugsziel - und die Wanne-Eickeler Zeitung attestierte dem Gastronom zu seinem 30-jährigen Jubiläum, das er den Fremdenverkehr deutlich angehoben habe. Das ließ natürlich auch die Wanne-Eickeler Stadtväter nicht ruhen, die neidvollen Blickes erkennen mussten, dass ihr toller Kaisergarten an der Wilhelmstraße gegen die Flora ins Hintertreffen geriet. Kein Wunder, denn er bot neben seiner Bepflanzung und einem Teich nur noch einen Kaiserbrunnen.
Gartensaal und Biergarten |
Um wie viel phantasievoller werkelte da ein Wilhelm Marzina vor sich hin: 1906 ließ er das sogenannte Schweizerhaus errichten, zu dem ein Kuhstall mit mehr als einem Dutzend Tiere gehörte, der selbstverständlich auch besichtigt werden konnte. (Das Kutel in Essen kam erst 75 Jahre später!) Ein Spiel- und Sportplatz für Kinder, Kegelbahn und Open-Air-Tanzflächen ergänzten das Angebot, das Marzina in den 1920er- und 1930er-Jahren noch um einen Schießstand und eine Orchestermuschel mit regelmäßigen Live-Konzerten erweiterte.
Die Wanne-Eickeler Stadtväter versuchten nachzurüsten, indem sie den mittlerweile Stadtgarten genannten Kaisergarten vergrößerten. Aber ohne Chance gegen Marzina, der alle toppte: mit einem Tierpark, zum Beispiel, in dem die Wanne-Eickeler neben Rotwild, Füchsen und Wildschweinen auch Affen, Schakale, Waschbären und sogar einen Wolf bestaunen konnten. Noch mit über 80 Jahren war Marzina als Gastronom aktiv, während bereits Sohn Wilhelm jun. in seine Fußstapfen trat.
Ruine mit Wasserfall - im Hintergrund das Windrad |
1967: Das Schweizerhaus wird abgebrochen. |
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Flora weitgehend zerstört, lediglich das Schweizerhaus blieb halbwegs unbeschädigt. Was aus den Marzinas wurde, verliert sich im Dunkel. Das Schweizerhaus diente zunächst als Quartier für Vertriebene. Dann wurde das Gelände von der St. Laurentius-Gemeinde aufgekauft, die eine Erholungsstätte im Schweizerhaus betrieb. 1959 wurde an der Stelle der ehemaligen Gasstätte das Altenheim Flora Marzina eröffnet. Der See versickerte durch Bergsenkungen und wurde zum Ententeich, am Schweizerhaus gab es noch gelegentlich Konzertveranstaltungen, 1967 wurde auch dieses Gebäude abgerissen.
72 Jahre nach Gründung der Flora Marzina wurde der Revierpark Gysenberg eröffnet, der heute als der erste seiner Art bezeichnet wird.
Der Flora-Teich heute
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